Interview mit Familie Atav/Yilmaz

„Ich musste mir irgendwelche Wörter erfinden.“

 

Eine kleine Geschichte der Sprachmittlung - ganz individuell, aber doch typisch?

 

Bislang haben wir im Rahmen unseres Newsletters lediglich Einzelpersonen aus der Sprachmittlungswelt interviewt, aber an diesem Tag Ende Februar 2024 hatten wir die Gelegenheit gleich mit einer ganzen Familie zu sprechen, die im Laufe ihrer Geschichte Sprachmittlung aus verschiedenen Perspektiven erlebten und bis heute erleben.

Wir treffen die Schwestern Sevinc Ece Atav und Elif Yilmaz zusammen mit deren Eltern an einem Freitagnachmittag zum Gespräch. Frau Atav und Frau Yilmaz haben sich kürzlich entschieden, das Projekt DOOR als Sprachmittler*innen zu unterstützen und es wurde schon bei der DOOR-Einführungsveranstaltung erkennbar, dass die Familie einiges über Sprachmittlung, Resilienz, Hindernisse, Ausgrenzung und positiven Beispielen zu erzählen hat. Diese Geschichte wollen wir vom Haus der Sprachmittlung nur allzu gerne weiterverbreiten, denn sie ist womöglich exemplarisch für viele Erlebnisse von Menschen in Rheinland-Pfalz. Diese Erlebnisse haben dunkle und traurige Aspekte, aber auch welche die erstaunen lassen und voller Überraschungen sind.

Wie es bei Geschichte und Geschichten oft üblich ist, wenden wir unseren Blick zuerst in die Vergangenheit. Die Familie Yilmaz ist kurdisch und kommt aus der Türkei, das Land, aus dem sie 1990 nach Deutschland geflüchtet sind. Wie in vielen Fällen war diese „Reise“ lang, beschwerlich und gefährlich, sie führte über Berlin nach Hessen und schließlich nach Rheinland-Pfalz führte. Wir können uns nur vage (oder gar nicht) vorstellen, dass allein diese Episode der Familiengeschichte mit dem Weg nach Deutschland, dem Leben in beengten Verhältnissen in Aufnahmeeinrichtungen und der lange Zeit bestehenden Gefahr der Abschiebung am Horizont es wert wäre, erzählt zu werden. Aber auch allein die Lupe auf das Thema der Sprache bietet uns Einblicke, die im öffentlichen Diskurs oft im Verborgenen bleiben, jedoch umso mehr Einsichten und Perspektivenerweiterung mit sich bringen können.

Wir fragen die Familie nach den Rollen von Sprachen in ihrem Leben. Sie antworten, dass die Eltern eigentlich das Kurdische als Muttersprache haben, die jedoch damals verboten war, sodass das Türkische Einzug in die Familie gehalten hat. Frau Atav und Frau Yilmaz sind mit Türkisch und Deutsch zweisprachig aufgewachsen, für beide ist das Deutsche zur Herzenssprache geworden, zuhause wird ein „Mischmasch“ aus Deutsch und Türkisch gesprochen. Und diese beiden Sprachen und der Transfer hin und her werden in der Familie seit der Einreise immer wieder eine gewichtige Rolle spielen. Als die Familie Anfang der 1990er Jahre in Deutschland Fuß fasste, war die Situation so, dass die Eltern lange Zeit nicht so sprachbewandert waren, um all ihre Angelegenheiten auf Deutsch zu regeln, der Vater musste von Anfang an arbeiten, um die Familie zu ernähren, die Mutter besuchte zwar immer wieder Sprachkurse, hatte aber zu dieser Zeit vier Kinder zu versorgen. Sprachkurse mit Kinderbetreuung waren damals wie heute nicht einfach zu finden. So mussten die Eltern Termine bei Behörden, in Schulen und Kindergärten, bei Ärzten oder bei Anwälten ohne Sprachmittlung wahrnehmen oder auf die Hilfe ihrer Kinder, meist auf die der Töchter Frau Atav und Frau Yilmaz zurückgreifen. 

Frau Atav berichtet von ihrer Rolle als Sprachrohr ihrer Eltern und meint:

„Auf dem Weg zu den Terminen hatte ich immer Angst. Ich habe mich immer gefragt: Was sage ich? Ich kenne nicht einmal die passenden Wörter auf Türkisch. Und natürlich auch nicht auf Deutsch. Aber ich war gezwungen es zu tun, ich musste es tun. Ich musste mir irgendwelche Wörter erfinden, die leicht und verständlich für mich waren.“

Wenn man sich dies vor Augen führt und die Perspektiven von Frau Atav und Frau Yilmaz einerseits und die von ihren Eltern anderseits versucht nachzufühlen, hat das Ganze etwas Beklemmendes. Frau Atav beschreibt das auch noch einmal in einer Anekdote.

Sie begleitete ihre Eltern als sprachmittelnde Person zum Elternsprechtag, an welchem es um sie selbst ging. Sie war das einzige anwesende Kind. So kam es zu einer Rollenüberfrachtung. Frau Atav war zeitgleich das Kind, die Schülerin, die Dolmetscherin ihrer Eltern, ihre Informationsbeschafferin und am Ende auch Mitentscheiderin, da sie ja auch über Hintergrundwissen verfügte. Dieses Karussell aus Verantwortlichkeiten und Anforderungen kann schon beim Lesen Schwindel verursachen und nötigt uns den größten Respekt vor dieser Aufgabe ab. Frau Atav selbst spricht von einer Last, die sie zu tragen hatte.

Wir fragen auch die Eltern nach deren Perspektive. Diese sagen, dass sie ihren Töchtern vertraut haben und es am Ende eigentlich immer positiv ausgegangen ist. Auf der anderen Seite war aber alles auch sehr schwierig, sie haben jedoch keine andere Wahl gehabt.

Ein positiver Ausgang lässt sich oft nur in der Retrospektive erkennen, diese Geschichte wird wie viele gerne von hinten erzählt. Frau Atav schildert von diversen Hindernissen, die ihre Herkunft und die Sprachbarrieren im Laufe der Zeit mit sich gebracht haben. Sie spricht gerade im Schulkontext von Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen, die immer wieder Einfluss auf die Bildungskarriere der Schwestern hatte. Auf der einen Seite standen die sich noch entwickelnden Sprachkenntnisse der Geschwister, auf der anderen Seite die fehlenden der Eltern, was Verständigung mit dem Lehrpersonal schwierig gestaltete. In der Konsequenz bekamen die Schwestern immer wieder die Rückmeldung, dass sie nicht gut genug wären und nicht nach Höherem streben sollten. Die Familie musste sogar anwaltlich erwirken, dass Frau Atav nicht in die Förderschule versetzt wird. Frau Atav kamen dann auch die Gedanken „Ich kann das alles nicht.“ oder „Es stimmt irgendetwas mit mir nicht.“ Für die Eltern war es zudem schwierig für ihre Kinder Partei zu ergreifen und ihre Interessen zu artikulieren.

Schlussendlich sind aber beide Schwestern ihren Weg gegangen, haben Ausbildungen bzw. ein Studium absolviert. Eine ehemalige Berufsschullehrerin von Frau Atav hat sie angesprochen, doch mal in ihre Klasse zu kommen und von ihrem Weg zu berichten und den Schüler*innen zu zeigen, dass es sich lohnt zu kämpfen und den Blick nach vorne zu richten. Frau Yilmaz arbeitet heute ehrenamtlich mit Kindern, setzt sich dafür ein, dass sie eine faire und schöne Schulzeit haben und eine Zukunft für sich aufbauen können.

Wie gesagt, alle in der Familie sprechen heute von einem positiven Ausgang, aber die Widerstände, die sie bis dahin zu nehmen hatten, sind nicht zu vernachlässigen.

Das Thema Sprachmittlung begleitet Frau Atav und Frau Yilmaz fast durch ihr ganzes Leben und das bis heute. Früher, als Kinder und Jugendliche, mussten sie den Sprachtransfer leisten, danach haben sie ihre Unterstützung auf ihr gesamtes Umfeld in der Community ausgeweitet. Sie beide waren hier oft unterwegs und haben außerhalb einer professionellen Struktur Menschen in ihrem Bekanntenkreis unterstützt. Das ging sogar so weit, dass Frau Atav einen Schlussstrich gezogen hat, weil die Belastung der immerwährenden Verfügbarkeit zu groß und die Geschichten zu viel geworden waren. In dieser Zeit führte sie Einsätze durch, in denen sie beispielsweise bei der Palliativmedizin ihr bekannten Eltern mitteilen musste, dass deren Kind nicht mehr viel Zeit zu leben hatte. 

Daraufhin stellte sich uns die Frage, warum Frau Atav eine dritte „Karriere“ als Sprachmittlerin bei der Vermittlungsstelle DOOR in Angriff nimmt und zusammen mit ihrer Schwester plant, zudem auch noch eine Sprachmittlungsqualifizierung zu absolvieren. Sie hatte berichtet, dass sie sich abgekapselt hatte und das eigentlich nicht mehr machen wollte.

Ihre Antwort hat uns überrascht, aber mit dem Gesprächsverlauf im Hintergrund und wie wir die Familie kennenlernen durften, auch irgendwie gar nicht:

„Es war so eine Freude, dass es jetzt so eine Struktur gibt, auf die man im Bedarfsfall zurückgreifen kann. In meinem Umfeld gibt es einfach viele Menschen, die das brauchen.“

Eine Struktur einer Vermittlungsstelle für Sprachmittlung im sozialen Raum, die ihrer Familie in der Vergangenheit nicht zur Verfügung stand, die aber vieles einfacher gemacht hätte.

Und es spricht Bände für das Engagement und die Abwesenheit von Groll auf das Vergangene von Frau Atav und Frau Yilmaz.

Frau Atav und Frau Yilmaz gewähren uns noch einen Blick in ihre Community. Sie sprechen davon, dass das Vertrauen untereinander zwar groß ist, aber auch Hilfe von außen akzeptiert wird. Sie haben aber festgestellt, dass Einrichtungen wie ein Sprachmittlungspool oder Vermittlungsstellen in der Community nicht bekannt sind und auch deshalb schon lange auf Bekannte und Verwandte bei der Sprachmittlung zurückgegriffen wird und zurückgegriffen werden musste.

Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass in Abwesenheit von organisierten Unterstützungsstrukturen über Jahre und Jahrzehnte Behelfsmodelle gewachsen sind. Innerhalb dieser Modelle konnten Menschen wie Frau Atav und Frau Yilmaz schlecht nein sagen, das Verhältnis von Nähe und Distanz wurde mehr zum Konflikt, bis dahin, dass sie sich ausgenutzt fühlten und einen Break machen mussten.

Abschließend fragten wir die Familie, was sie sich für das Sprachmitteln für die Zukunft in Rheinland-Pfalz wünscht. 

Frau Atav und Frau Yilmaz fänden einen einfacheren Zugang zu Sprachmittlungsstrukturen wichtig, ebenso wie mehr Öffentlichkeit für dieses Thema. Außerdem steht auf ihrem Wunschzettel, dass die Verantwortung, eine sprachmittelnde Person zu einem Gespräch hinzuzuziehen, bei den Fachpersonen liegt.

Diese Wünsche trägt das Haus der Sprachmittlung uneingeschränkt mit und will sich auch weiterhin mit allen Kräften dafür einsetzen.

Wir danken der Familie Atav/Yilmaz für die Einblicke in ihre Geschichte, für ihre Offenheit und ihr Engagement.