Wir haben alle eine Geschichte

Interview mit Negin

Negin ist 24 Jahre alt und kommt aus dem Iran. Sie ist seit zwei Jahren in Deutschland und hat in Mainz gerade einen Master im Bereich Soziolinguistik und Multilingualismus abgeschlossen. Wir treffen sie im Oktober 2023 über Zoom, nachdem wir sie bei unserem Stand beim interkulturellen Fest in Mainz kennengelernt haben. Schon dort hatten wir den Eindruck, dass Negin ein Faible für Sprachen und für die Kommunikation mit Menschen hat. Hinzu kommt eine Neugier auf neue Dinge und neue Kulturen. Wir denken, dass dieser Eindruck von uns im Laufe dieses Interviews mehr als bestätigt wird.

Wir fragen sie zunächst, wie „das mit den Sprachen“ alles angefangen hat, was die kleinen Faktoren waren, die sie in diesen Bereich gebracht haben.

Sie sagt, dass zwar Englisch und Arabisch im Iran in der Schule auf dem Stundenplan standen, aber sie schon seit der Kindheit durch die Motivation ihrer Mutter, Englisch in Kursen gelernt hat. Sie formuliert daraufhin einen schönen Satz: „Mit der Sprache öffnet man die Tür zu einer neuen Kultur“ und so stehen neben Farsi/Dari/Tajik und Englisch auch Arabisch, Chinesisch, Norwegisch, Schwedisch und Deutsch in ihrem Palmarès. Sie ist an der Grundstruktur und der Essenz von Sprachen interessiert und möchte wissen, wie Sprachen funktionieren. Daher taucht sie immer wieder in neue Sprachen (und damit in Kulturen) ein und öffnet sich ganz persönlich neue Welten.

Wie wir alle aber schon längst wissen, sind polyglotte Menschen nicht (immer) automatisch hervorragende Dolmetscher*innen oder Übersetzer*innen. Wie kam also Negin in die Welt des Übersetzens und Dolmetschens?

Sie wurde eines Tages von einer befreundeten Person gefragt, ob sie ihr ein Dokument übersetzen könne. Und sie konnte und es hat ihr natürlich auch Spaß bereitet. Aus einem Dokument wurden mehr Dokumente und aus mehr Dokumenten wurden Kinderbücher, die sie vom Englischen zu Farsi übersetzt hat. Als 20-jährige hatte sie schließlich sogar das Angebot auf dem Tisch liegen, einen ganzen Roman zu übersetzen. Aber Negin meinte, dass sich das nicht gut angefühlt hat, das lange Warten auf ein Endresultat wäre ihr zu viel. Und so ging sie den Schritt zu mehr Action und mehr unmittelbaren Erfahrungen und wandte sich dem Dolmetschen zu. Das passiert live und erfordert mehrere Prozesse zur gleichen Zeit, ihre Fähigkeiten und ihre Interessen wurden zu einer Aufgabe zusammengeführt, sodass schließlich das Übersetzen nur eine Etappe in Negins Transitionsprozess darstellte. Im Jahr 2020 absolvierte sie dazu eine Ausbildung im Iran.

Wir fragen Negin nach ihren bisherigen Einsatzgebieten als Dolmetscherin. Und wie viele Dolmetscher*innen antworten würden, gab auch sie an, in einem breiten Bereich tätig zu sein. Von Businesstreffen von Vogelfutterfirmen, über die gesamte Palette des Dolmetschens für geflüchtete Menschen (Orientierung, Asylverfahren, Dokumente, Arztbesuche, Therapiesitzungen) bis hin zu socializing events, bei welchen Menschen in Kontakt und Austausch kommen.

Neben der Herausforderung der parallelen Prozesse beim Dolmetschen und dem breiten Einsatzgebiet gibt Negin an, dass es für sie weitere persönliche lohnenswerte Aspekte des Dolmetschens gibt.

Sie beschreibt im Interview das Gefühl am Ende eines Einsatzes, wenn jede*r Beteiligte mit einem Lächeln gehen kann, wenn gegenseitiges Verstehen und Verständnis herbeigeführt wurden. Durch sie und ihren Einsatz war es möglich Menschen miteinander in Verbindung zu bringen, die sich ohne ihre Hilfe nicht hätten verständigen können.

Wir fragen sie, was die besondere Herausforderung für Dolmetscher*innen ist, wenn sie Farsi/Dari/Tajik dolmetschen. Negin beschreibt, dass Menschen mit diesen Sprachen oft Zeit brauchen, um sich in einer Situation mit Dolmetschbeteiligung zu öffnen und Vertrauen in Situation und Person zu erlangen. Als Dolmetscher*in sollte man den Menschen schnell ein gutes Gefühl geben, da sich sonst die Kommunikation schwierig gestaltet. 

Hier wird deutlich, dass Dolmetschen oft viel mehr ist, als nur der Transfer zwischen zwei Sprachen. Negin merkt an, dass es spezifische kulturelle Aspekte beim Dolmetschen von Farsi/Dari/Tajik gibt, die sie als Dolmetscherin, aber auch die beteiligten Fachpersonen wissen sollten. 

Natürlich wollen wir an dieser Stelle nicht pauschalisieren, aber Negin betont vier interessante Punkte, wie sich Kultur und durch Sprache übertragene Besonderheiten in Gesprächssituationen manifestieren. Also tauchen wir kurz in die wunderbare Welt der persischen Sprache und Kultur ein:

 

  • Wenn man mit Menschen das erste Mal spricht, herrscht auf deren Seite ein hoher Grad an Respekt und damit an Zurückhaltung. Als Dolmetscher*in fühlt man förmlich den Moment, an dem das Eis gebrochen ist. Der Ton ändert sich, die Menschen entspannen sich und es werden z.B. weniger förmliche Pronomen benutzt
  • Menschen neigen dazu, sich viel zu bedanken, auch wenn sie „nur“ eine Information oder einen Ratschlag bekommen haben
  • Menschen und hier im besonderen Maße Frauen benutzen Umschreibungen und Redewendungen, um heikle Themen nicht direkt anzusprechen und sie ein wenig zu verkleiden. Als Beispiel führt Negin den Umgang mit der Periode an. Frauen sagen Dinge wie: „Ich bin in den letzten Tagen krank“ oder „Ich habe Rückenschmerzen“. Als Dolmetscher*in muss sie solcherlei Ausdrücke und Umschreibungen decodieren und an die Fachperson weitergeben
  • Die persische Sprache kennt in der dritten Person Singular (er/sie/es) nur ein Pronomen (u). Hier bedarf es oft Zusatzerklärungen, um Missverständnissen vorzubeugen.

 

Negin spricht darüber, dass sie in ihrem Wirken auf Fachpersonen getroffen ist, die bezüglich dieser und weiterer Besonderheiten der Kommunikation sehr aufgeschlossen waren und auch aufgrund ihrer Erfahrung die kulturellen, die persönlichen und die situativen Aspekte von Sprache und Äußerungen erkennen und in ihre Arbeit und Gesprächsführung einfließen lassen konnten. Auch weil sie aber in ihrer Arbeit das genaue Gegenteil erlebt hat, betont Negin, dass es für Fachpersonen wichtig ist, ein Bewusstsein für Sprache und Kultur zu entwickeln, Training und Erfahrung sind hier wichtige Wege dies zu erreichen. Sie sagt weiter, dass Fachpersonen und Menschen sich darüber bewusst sein sollen, dass jeder Mensch, der nach Deutschland kommt, ob nun aus Gründen von Flucht oder über Migration, eine persönliche Geschichte und einem Set von Kenntnissen und Fähigkeiten hat. Sie müssen sich zwar in das bestehende System einfügen, aber es wichtig, dass ihre individuelle Geschichte gehört und respektiert wird.

Wir fragen Negin, wo sie im Integrations- und Sprachmittlungsbereich noch Verbesserungspotentiale sieht und wie ihre Wünsche in diesem Feld aussehen. Mit ihrer Antwort schließt sie direkt an das vorher von ihr Erwähnte an.

Sie wünscht sich mehr Dialog zwischen den Menschen, mehr Miteinander-Sprechen und mehr Austausch. Sie sagt: „Wenn wir nicht miteinander sprechen, lernen wir nicht die Geschichten der anderen kennen und andersherum.“ Dieser Austausch von Menschen und Geschichten führt zu mehr gegenseitigem Verständnis. Wenn man sich über erlebte Situationen austauscht, werden schnell Gemeinsamkeiten gefunden, alle Menschen fühlen Glück, Ärger oder Trauer und können diese Emotionen bei der Gegenseite nachempfinden. 

 

Abschließend haben wir noch eine Frage und wollen wissen, was Negin sowohl an der deutschen als auch an der persischen Sprache schätzt.

Sie mag die Dynamik und den Pragmatismus der deutschen Sprache, sie kann im Handumdrehen neue (und lange) Wörter bilden und ist oft sehr direkt und sachorientiert. Die persische Sprache hingegen tritt als ungleiche Schwester auf. Wörter und Sätze haben verschiedene Schichten, die je nach Kontext und Sprecher*in jeweils eine andere Bedeutung haben können. Sie können immer unterschiedlich genutzt und interpretiert werden. Das zeigt natürlich die reiche Vielfalt einer Sprache, macht aber die Arbeit einer Dolmetscherin nicht einfacher, wohl aber spannender.

 

Wir danken Negin, dass sie das Gespräch mit uns geführt hat und wünschen ihr und uns allen ganz in ihrem Sinne noch viel mehr Anlässe für Dialog und Austausch von Geschichten.

 

Das Interview wurde auf Englisch geführt und danach von uns redaktionell bearbeitet.