Mythos #4

Mythos: Paket des Grauens

Sprachmittlung? Brauchen wir in Deutschland doch gar nicht!

 

In unserer Arbeit in der Sprachmittlungslandschaft begegnen uns immer wieder Vorurteile und Meinungen, die über verschiedene Erklärungsansätze anführen, dass man Sprachmittlung in Deutschland nicht braucht oder wir mit Sprachmittlung mehr Schaden anrichten als positive Effekte zu erreichen. Gerade auch in den momentanen gesellschaftlichen Diskursen, in denen einfache Lösungen für komplexe Konstellationen und Herausforderungen angeboten werden, verfangen diese pauschalen Fehlannahmen recht schnell und bekommen dadurch eine gewisse Anhängerschaft. Wir wollen uns in diesem Mythos mal drei solcher Stereotype und Meinungen anschauen und unsere Erfahrung aus dem Kontakt mit der Sprachmittlungswelt und ihren Akteur*innen dagegensetzen.

 

  1. Sprachmittlung ist ein Luxusgut, von dem nur Menschen, die nicht ausreichend die deutsche Sprache beherrschen, profitieren.
  2. Es gibt hier Menschen, die schon so lange Zeit in Deutschland leben, die sollten doch Deutsch können.
  3. Sprachmittlung bremst die Sprachentwicklung und macht Spracherwerb überflüssig.

 

Sprachmittlung ist ein Luxusgut, von dem nur Menschen, die nicht ausreichend die deutsche Sprache beherrschen, profitieren.

 

Wenn Menschen, die aus welchen Gründen auch immer, noch nicht die deutsche Sprache ausreichend beherrschen, im sozialen Raum auf Fachpersonen treffen, können Informationen aufgrund der Sprachbarriere nicht oder nicht vollständig ausgetauscht werden.

Wenn nun Sprachmittler*innen zu dem Gespräch hinzugezogen werden, können diese Personen (Klient*innen/Kund*innen/Patient*innen/Ratsuchende = KKPR) verstehen, was gesagt wird und können zudem ihre eigenen Positionen und Situationen kommunizieren. Die Präsenz und die Dienstleistung einer dolmetschenden Person kosten dann Geld und Zeit. Das ist richtig und dem können wir an dieser Stelle auch nicht widersprechen.

Jedoch ist der Schlagbaum der Sprachbarriere nur aus der Perspektive der KKPR schwarz-rot-gelb eingefärbt. Aus dem Blickwinkel der Fachpersonen ist dieser Schlagbaum ein wahres Chamäleon und nimmt je nach Herkunftssprache eine andere Farbe und auch eine unterschiedliche Dimension ein. Sich auf dem Dogma „Amtssprache ist Deutsch“ auszuruhen, mag nur auf den ersten Blick gemütlich anmuten. Dieser Claim alleine macht KKPR nicht über Nacht zu Deutschsprachprofis und der Kommunikationsaustausch und alle nachgelagerten Ergebnisse wie Entscheidungen, Behandlungen, Beratungen, Hilfe- oder Dienstleistungen werden dem Zufall überlassen. 

Spätestens an dieser Stelle dürfte klar sein, dass alle Beteiligten – Fachpersonen und KKPR – von qualitätsvoller Sprachmittlung profitieren und dadurch Rädchen wieder ineinandergreifen können.

 

Es gibt hier Menschen, die schon so lange Zeit in Deutschland leben, die sollten doch Deutsch können.

 

Wie bei vielen Dingen im Leben ist „lange Zeit“ eine höchst relative Angabe. Lange Zeit im Vollsprint rennen zu können, bedeutet für die besten von uns ca. 10 bis 20 Sekunden. Lange Zeit, um den Sinn des Lebens zu finden, kann für viele eine eher aufwändige Übung werden. Dann kommt noch etwas dazu: Was machen wir mit dieser langen Zeit? Was können wir in dieser langen Zeit machen? Welche Voraussetzungen bringen wir mit? Welche Mittel und Umstände stehen uns (nicht) zur Verfügung?

Auf das Erlernen der deutschen Sprache gemünzt, schätzen Expert*innen, dass es ca. 9 bis 12 Monate intensiven und täglichen Lernens bedarf, um auf ein B2/C1-Niveau zu kommen. Oder anders gerechnet: Bei einer Stunde täglichen Lernens dauert dieser Prozess drei Jahre. Dieses wiederum reicht nicht immer aus, um alle Herausforderungen im sozialen Raum zu bewältigen. 

Wenn dann noch andere Faktoren dazukommen, wird aus der langen Zeit von einem bis drei Jahren eine noch viel längere Zeit. 

 

  • hat die lernende Person Erfahrung im (Sprachen-)Lernen?
  • hat die lernende Person Zugang zu Lernmaterialien oder Sprachkursen?
  • macht das Umfeld der lernenden Person das Lernen schwer oder leicht?
  • hat die lernende Person im Moment die Kapazitäten eine Sprache zu lernen?
  • hat die lernende Person eine Perspektive in Deutschland?
  • hat die lernende Person die Zeit ununterbrochen/täglich Deutsch zu lernen?

 

Wenn Menschen mit keinen oder nicht ausreichenden Deutschkenntnissen auf ihrem Weg zur selbstständigen Verwendung der deutschen Sprache Unterstützung von Fachpersonen und sprachmittelnden Personen bekommen, ist die Chance groß, diese „lange Zeit“ zu verkürzen und sie zu befähigen, sich perspektivisch autonom im Alltag, im sozialen Raum und 

der Gesellschaft bewegen zu können.

Sicherlich wird es immer Menschen geben, denen es aus verschiedenen Gründen nicht gelingt, ihre Sprachkenntnisse so zu entwickeln, dass sie ihre Angelegenheiten aus den eigenen Ressourcen heraus bewältigen können. Dann brauchen diese Menschen und die betreffenden Fachpersonen die Unterstützung von Sprachmittler*innen.

 

Sprachmittlung bremst die Sprachentwicklung und macht Spracherwerb überflüssig

 

Diese Fehlannahme ist eng mit der vorhergehenden verknüpft. In Deutschland gibt es mittlerweile ein recht gutes Sprachförderungssystem, das in Form von Sprachkursen (Integrationskurse, DeuFöV-Kurse) Menschen die Gelegenheit gibt, die deutsche Sprache zu erlernen. Braucht man dazu dann auch noch Sprachmittlung? (Spoiler: Ja) Sorgt sie nicht dafür, dass Menschen denken, dass sie nicht Deutsch lernen müssen, da es ja auch über den anderen Weg funktioniert? (Spoiler: Nein).

Sprachförderung und Sprachmittlung sind komplementär und ergänzen sich gegenseitig. Beide Konzepte haben alleine für sich nicht die Kapazitäten und die nötige Reichweite, um alle Menschen zu erreichen. Außerdem wollen wir ja nicht vergessen, dass Fachpersonen im gleichen Maße von Sprachmittlung (und natürlich mittelbar auch von Sprachförderung) profitieren und sie allein deshalb ein wichtiges Integrations- und Kommunikationsinstrument darstellt.

Wenn man dann auch noch einen kritischen Blick auf die Ausgestaltung der Sprachmittlungslandschaft allein in Rheinland-Pfalz wirft, wird schnell deutlich, dass Sprachmittlung nicht einmal entfernt den Bedarf decken könnte, wenn alle KKPR plötzlich das Deutschlernen einstellen und sich auf die Dolmetscher*innen (die zum Großteil ehrenamtlich tätig sind) bei der Bewältigung ihrer Aufgaben stützen würden. Das ist den KKPR nur allzu bewusst und sie sehen in großer Mehrheit Sprachmittlung als Ergänzung, aber nicht als Substitut.