Mythos #2

„Die sprachmittelnde Person sagt zu viel! Oder nicht genug! Auf jeden Fall überträgt sie nicht, was gesagt wurde!“

Das Schöne und gleichzeitig Komplizierte bei Sprachen ist, dass sie alle unterschiedlich und einzigartig sind. Jede Sprache hat Eigenheiten, Besonderheiten und Ausdrücke, die ihr ganz eigen sind und die sich nicht 1 zu 1 in anderen Sprachen wiederfinden. Dass Sprachen auf der Wortebene nicht gleich sind, fällt natürlich sofort ins Auge bzw. ins Ohr.

Die deutsche Sprache wartet für Sprachmittler*innen auf der Wort- und Satzebene mit besonderen Herausforderungen auf. Wir sind sehr gut darin lange Komposita zu bilden. Das „Butterbrot“ ist noch einfach, dann wird es schwieriger mit einem „Reifendruckmessgerät“. Aber diese Begriffe sind wenigstens noch mit einem Bild zu verbinden. „Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft“ oder „Gleichgewichtsdichtegradientenzentrifugation“ werden dann schon herausfordernder in der Übertragung, vor allem wenn die Zielsprache das Phänomen des zusammengesetzten Wortes nicht kennt. Viele Sprachen zerteilen diese Monster in verdauliche Häppchen, wodurch sich die Länge des übertragenen Wortes um einige Buchstaben und Sekunden erhöht.

Außerdem kann die deutsche Sprache auch hervorragende Wortbilder erzeugen, die manchmal schon, manchmal nicht, eine Repräsentation in der Zielsprache haben. Dazu muss die sprachmittelnde Person erst einmal das Wortbild erkennen und kennen (einen Vorstellungsinhalt haben), die passende Entsprechung finden und dann das Gesagte übertragen. Wenn es diese Entsprechung nicht gibt, muss die sprachmittelnde Person umschreiben und erklären. Das nimmt dann mehr Zeit in Anspruch. Es kann aber natürlich auch sein, dass man gar nicht vom hundertsten ins tausendste kommen muss und es eine ganz kurze Entsprechung gibt. Grundsätzlich kann man festhalten, dass andere Sprachen auch schöne Töchter und Söhne haben und Sprachmittler*innen immer wieder aufs Neue auf die Pirsch nach dem besten Exemplar gehen müssen. Dieser Prozess dreht bisweilen an der Uhr, in anderen Fällen ist die Übertragung nur ein Kinkerlitzchen.

Natürlich ist die deutsche Sprache – wie jede Sprache – sehr kreativ mit Wörtern und Konzepten. Übersetzen Sie doch mal folgende Wörter in eine Ihnen bekannte Fremdsprache:

Hüftgold, Schadenfreude, schnabulieren, splitterfasernackt.

Je nach Gesprächskontext und Gesprächspartner*innen gibt es noch das Phänomen der Fachsprache, die unter Umständen erklärt werden muss (entweder durch die Fachperson oder durch die sprachmittelnde Person):

 „Der Urosonographie-Befund zeigt eine solide, echoinhomogene Raumforderung im kranialen Drittel der rechten Niere mit Entwicklung nach dorsal, der kaudale Pol ist unauffällig, der rechte paraaortale Lymphknoten (medial des re. Pyelon) ist vergrößert, es zeigt sich eine ventrale Zyste an der rechten Niere, die contralaterale Niere ist unauffällig, keine Hydronephrose.“

Auf struktureller Ebene ähneln sich manche Sprachen, aber meist müssen Sprachmittelnde Satzteile und Wörter umstellen, damit es in der Zielsprache Sinn ergibt. Das kann mehr oder weniger Zeit in Anspruch nehmen.

Sprache und Situationen, in denen Sprache verwendet wird, fußen auf einer Kultur (oder Kulturkomponenten) und auf einem jeweils spezifischen Kontext, die beide Vorwissen und Vorstellungsinhalte voraussetzen. Die sprachmittelnde Person muss Kultur, Kontext, Satz und Wort in zwei Sprachen richtig jonglieren. Das kann in einzelnen Fällen dazu führen, dass die Länge von Ausgangssatz und gedolmetschten Sätzen sich signifikant unterscheiden und bei der Fachperson (oder bei dem/der Klient*in) den Eindruck entstehen lässt, dass hier Dinge weggelassen oder verschwiegen werden, dass ohne Einbeziehung der jeweils anderen Person Seitengespräche geführt werden oder dass die sprachmittelnde Person ihre Rolle überschreitet und zusätzliche Informationen oder Ratschläge gibt.

Qualifizierte Dolmetscher*innen und Sprachmittler*innen sind sich den Herausforderungen bewusst und bemühen sich stets bei allen Gesprächsbeteiligten Transparenz herzustellen und den „lost in translation“-Effekt weitgehend zu minimieren. Sollten Sie als Fachperson oder als Klient*in das Gefühl haben, dass Inhalte weggelassen oder hinzugefügt werden, sprechen Sie die sprachmittelnde Person an und bitten um Aufklärung. Qualifizierte Sprachmittler*innen, die mit einem professionellen Rollenprofil arbeiten und sich auf ihre Aufgaben beschränken, werden dieser Bitte gerne nachkommen.

 

Der demystifizierte Mythos lautet also:

 

Die professionelle sprachmittelnde Person sagt nicht zu viel oder zu wenig. Sie überträgt Sprachen in zwei Richtungen und muss den Unterschieden in Sprachen Rechnung tragen.